Kürzung Krankengeld um den Zahlbetrag der teilweisen Erwerbsminderungsrente
Der Wortlaut des § 50 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Teil V (SGB V) lautet: „Das Krankengeld wird um den Zahlbetrag der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung oder der Teilrente wegen Alters aus der gesetzlichen Rentenversicherung gekürzt, wenn die Leistung von einem Zeitpunkt nach dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der stationären Behandlung an zuerkannt wird.“
Folglich ist zu klären was unter dem Begriff „Zahlbetrag“ i.S.d. § 50 Abs. 2 SGB V, nämlich der Brutto-Wert oder der Netto-Wert verstanden wird. Da es sich bei dem Begriff „Zahlbetrag“ um keinen Begriff handelt, der im SGB V legaldefiniert ist, bedarf diese Formulierung einer Auslegung.
Das Wort „Zahlbetrag“ lässt für sich genommen darauf schließen, dass nur der Betrag gemeint sein kann, der an den Versicherten tatsächlich ausgezahlt worden ist. Das ist im Regelfall der Nettobetrag. Des Weiteren ergibt die Art der Formulierung nur dann Sinn, wenn eben nicht der Bruttobetrag erfasst wird. Ansonsten hätte der Gesetzgeber das Wort „Zahlbetrag“ auch weglassen und nur die Formulierung: „Das Krankengeld wird um die Höhe der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung…“ wählen können. Es ist somit davon auszugehen, dass der Gesetzgeber hier kenntlich machen wollte, dass nur der Betrag, der an den Versicherten ausgezahlt wird, zur Anwendung kommen soll.
Das Auslegungsergebnis wird durch gerichtliche und obergerichtliche Rechtsprechung sowie den überwiegenden Teil der Kommentarliteratur bestätigt. Die Rechtsprechung und Kommentarliteratur führt hierzu aus, dass der Gesetzgeber durch die Verwendung des Begriffs "Zahlbetrag" deutlich gemacht hat, „dass nicht die Höhe des Rentenanspruchs für die Kürzung maßgebend ist, sondern die tatsächliche Auszahlung. Der Begriff Zahlbetrag bedeutet vom Wortsinn her den nach den vorgenommenen Abzügen bzw. Einbehaltungen tatsächlich ausgezahlten Betrag. Davon geht offensichtlich auch die Deutsche Rentenversicherung aus, wenn sie in der Mitteilung vom 20. August 2002 an die Beklagte ausdrücklich als Zahlbetrag den Betrag nennt, der nach Abzug der Beitragsanteile zur Kranken- und Pflegeversicherung ausgezahlt wird.“ (LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.10.2005 – 19.10.2005 - L 5 KR 88/04)
In einer weiteren Entscheidung bestätigt das Landessozialgericht NRW das Ergebnis seiner Auslegung und führt ergänzend aus: „Nach dem Wortlaut des § 50 Abs 2 Nr 2 SGB V ist das Krankengeld um den "Zahlbetrag" der entsprechenden Rente zu kürzen. Der Wortsinn dieses Begriffs bedeutet isoliert betrachtet, dass lediglich die dem Versicherten tatsächlich zufließende Leistung bei der Kürzung zu berücksichtigen ist.“ (LSG NRW, Urteil vom 30.08.2007 - L 2 KN 223/06 KR)
Die von der Rechtsprechung angeführten Argumente sind überzeugend. Im Ergebnis der Wortlautauslegung spricht daher mehr für die Auffassung, dass im Rahmen des § 50 Abs. 2 SGB V tatsächlich die Netto-Rente gemeint sein dürfte.
Sinn und Zweck
Genau wie § 49 SGB V bezweckt § 50 SGB V bezogen auf den Anspruch auf Krankengeld, Doppelleistungen zweckidentischer, zeitgleicher Sozialleistungen anderer Träger und Stellen zu verhindern, um eine Überversorgung des Versicherten auszuschließen (BT-Drs. 13/340, S. 9; Bundessozialgericht -BSG- v. 29.09.1998 - B 1 KR 5/97 R).
Des Weiteren spricht der Gesetzgeber dem § 50 SGB V eine Teilsicherungsfunktion zu (So ausdrücklich BSG, Urteil vom 04.05.1994 - 1 RK 37/93)
Die Anrechnung der Brutto-Rente hätte aber nicht nur die Vermeidung des Bezugs von Doppelleistungen mit Lohnersatzcharakter zur Folge, sondern führte darüber hinaus zu einer Verringerung des dem Versicherten gewährten Zahlbetrages. Denn der Versicherte würde durch die Anrechnung der Bruttorente im Ergebnis weniger Sozialleistungen als vorher beim alleinigen Bezug des Krankengeldes erhalten. Die Krankenkasse erhielte im Fall der Anrechnung der Bruttorente Beiträge, obwohl § 224 SGB V die Beitragsfreiheit des Krankengeldes bestimmt. Eine solche gesetzgeberische Intention ist nicht erkennbar. (Vgl LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.10.2005 – a a O, Rn. 21).
Bestätigt wird diese Wertung durch das Sozialgericht München, welche es in seinem Urteil vom 02.04.2008 ausführt, dass eine Schlechterstellung des Versicherten stattfindet, „wenn das Krankengeld eines Rentenbeziehers auch um die aus der Rente abgeführten Sozialversicherungsbeiträge, die nicht an den Versicherten, sondern an seine Sozialversicherungsträger ausbezahlt werden, gekürzt würde.“ (SG München vom 02.04.2008, S 19 KR 429/07)
Sinn & Zweck der Vorschrift ist der entscheidende Aspekt für die Auslegung des Wortes „Zahlbetrag“. Die Gerichte haben überzeugend ausgeführt, dass im Falle der Bruttorente Beträge in Abzug gebracht werden, die dem Versicherten nie zur Verfügung standen und für ihn auch nicht vorgesehen waren, da diese Beträge anderen Sozialversicherungsträgern zukommen. Insbesondere vor dem Aspekt des § 224 SGB V, worin das Gesetz die Beitragsfreiheit des Krankengelds regelt, ist es mit dem o.g. Gesetzeszweck unvereinbar, wenn die Bruttorente in Abzug gebracht wird. Sofern die teilweise Erwerbsminderungsrente geringer ausfällt als der Krankengeldanspruch, würde mit der Bruttorente ein zu hoher Betrag in Ansatz gebracht werden, welcher sich aufgrund der noch abzuführenden Sozialversicherungsbeiträge weiter reduzieren würde.
Das Ergebnis der Gerichte ist nachvollziehbar. Eine erneute Berücksichtigung entsprechender Beiträge würde damit zu einer doppelten Belastung des Klägers führen. Denn wäre die Krankenkassen berechtigt das Krankengeld, um die aus der Rente zu zahlende Sozialversicherungsbeiträge zu kürzen, so würde sie wirtschaftlich gesehen die Krankenversicherungsbeiträge sogar doppelt einnehmen: erstens als real vom Rentenversicherungsträger an die Krankenkasse abgeführte Beiträge und zweitens indirekt dadurch, dass sie um die von ihr selbst eingenommene Beitragsleistung zusätzlich auch noch das an den Versicherten ausbezahlte Krankengeld kürzt.
Wie die Rechtsprechung hierzu zutreffend ausführt, stünde den Versicherten im Ergebnis weniger Geld zur Verfügung, welches er mit der alleinigen Auszahlung des Krankengelds hätte. Dass dies nicht die Intention des Gesetzgebers ist, dürfte offensichtlich sein.
Der Versicherte darf vor dem Hintergrund des Gesetzeszwecks richtigerweise darauf vertrauen, dass das Krankengeld für die Anspruchsdauer unter Zusammenrechnung mit der später gewährten weiteren Lohnersatzleistung in der Summe gleich bleibt (so auch LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.10.2005 – a. a. O.).
Denn kürzte man das Krankengeld auch um den bereits aus der Rente entrichteten Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung, bedeutet dies gleichzeitig, dass entgegen § 224 SGB V (auch) vom Krankengeld ein Krankenversicherungsbeitrag abgezogen würde, obwohl das Krankengeld beitragsfrei bleiben soll. Insoweit ist der Auffassung des LSG NRW (Urteil vom 30.08.2007– aaO) zu Folgen.
Verfassungskonforme Auslegung
Ebenfalls würde es durch die unsachgerechte Doppelbelastung zu einem Verstoß gegen Artikel 3 Grundgesetz führen. Prüfungsmaßstab allein Art. 3 Abs. 1 GG, der es dem Gesetzgeber verbietet, Gruppen von Normadressaten unterschiedlich zu behandeln, obwohl zwischen ihnen keine Unterschiede solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (BVerfGE 55, 72, 88). Die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes verlangt den Vergleich von Lebenssachverhalten, die einander nie in allen, sondern stets nur in einzelnen Merkmalen gleichen, wobei es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers ist, zu entscheiden, welche von diesen Merkmalen er als maßgebend für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung ansieht (vgl. BVerfGE 83, 395).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist eine Kürzung um den Brutto-Betrag weder sachlich geboten noch bedeutet die Nichtberücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge eine willkürliche Schlechterstellung der sonstigen Bezieher von Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Begründung der Landessozialgerichte ist vor diesem Hintergrund zutreffend. So wird u.a. ausgeführt:
„Abgesehen davon, dass diese Beiträge von der Rente auch bei ersteren Beziehern einbehalten werden, ergibt sich dies daraus, dass der Anspruch auf Krankengeld ohnehin befristet ist und der Versicherte darauf vertrauen kann, dass das Krankengeld für die Anspruchsdauer unter Zusammenrechnung mit der später gewährten weiteren Lohnersatzleistung in der Summe gleichbleibt. Andernfalls hätte es der Versicherte auch in der Hand, seinen Leistungsanspruch zu manipulieren, indem er den Antrag auf Bewilligung der Rente erst mit Wirkung für das Erlöschen des Krg-Bezuges stellen würde.“ (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.09.1999 – L 16 KR 41/98; Urteil vom 27.06.2006)
Dabei ist zu konstatieren, dass Bezieher einer teilweisen Erwerbsminderungsrente unter Heranziehung des Bruttobetrags gegenüber Personen, die keine konkurrierenden Sozialleistungen erhalten, sachgrundlos schlechter gestellt würden, so dass bereits nach verfassungskonformer Auslegung des Begriffs „Zahlbetrag“ hier nur der Netto-Betrag gemeint sein kann.
Gesetzeshistorie
Es wird festgestellt, dass schon unter der Vorgängerregelung in § 183 Abs. 1 RVO von der Begrifflichkeit einer „gewährten Rente“ die Rede war. Darunter wurde damals die tatsächlich gezahlte/überwiesene Rente an den Rentenbezieher verstanden. Mit der Neuregelung des § 50 Abs. 2 SGB V zum 01.01.1989 wurde diesbezüglich keine Änderung getroffen (vgl. BT-Drucks. 11/2237, S 181 ff). Tatsächlich ergibt sich nach Studium der Gesetzesbegründung kein Anhaltspunkt auf eine andere Wertung, da sich der Gesetzgeber hierzu gar nicht äußert. Es ist aber festzuhalten, dass das Brutto-Prinzip (beim Einkommen Selbstständiger) bereits in dem BSG-Urteil vom 22.08.1969 (3 RK 78/68) Anwendung fand und bei § 183 Abs. 1 RVO trotz der Kenntnis Brutto-Prinzips auf den Netto-Wert abgestellt wurde. Der Gesetzgeber hat in Kenntnis dieser unterschiedlichen Anwendung davon abgesehen, diesen Umstand in Rahmen der Gesetzesreform zu ändern. Der von den Gerichten getroffene Schluss, dass die Anwendung der in § 183 Abs. 5 RVO beibehalten soll, kann jedenfalls nicht widerlegt werden.